Einzelprojekte

Die Performanz des Dokuments. Neuere dokumentarische Tendenzen in der deutschsprachigen Literatur nach 2000

"Seit dem Jahr 2000 erlebt die deutsche Literatur ein bemerkenswertes Comeback der dokumentarischen Literatur, die sich über jene Bedenken hinwegsetzt, die zum raschen Verfall der politisierten Dokumentarliteratur der 68er-Generation geführt hatten. Hatten die Autoren der 60er Jahre mit ihren Texten und Performances publikumswirksam auf tabuisierte gesellschaftliche Themen aufmerksam gemacht, so wurde die Weiterentwicklung dieser Literaturkonzeption in den 70er Jahren häufig als ästhetisch defizitär oder als moralisierend und letztendlich subjektivistisch eingestuft. Zu den Vertretern der neuen Generation gehören Autoren, die den Mitteln des Dokuments und des Archivs eine neue Kreativität abgewinnen, indem sie auf Eintauchen und Verschmelzung statt auf bewährte Ideologiekritik setzen, dabei gezielt die Grenze zwischen Fakt und Fiktion überschreiten und so den Rezipienten verunsichern. Im Rahmen des Projektes zu berücksichtigen sind einerseits junge Autoren wie Juli Zeh, Kathrin Passig und Kathrin Röggla, und andererseits die Nachfahren des avantgardistischen Situationismus und Aktionismus wie Alexander Kluge, Rimini Protokoll und Christoph Schlingensief. Typisch für diese Autoren ist, dass sie die entscheidende Kritik, nämlich dass die Auswahl der Dokumente letztendlich subjektiv motiviert sei, zu ihrem Ausgangspunkt erklären und in ein hybridisiertes Verständnis von Dokument als Performanz integrieren. Das Projekt bezweckt einerseits eine rhetorische und narratologische Analyse von Repräsentationsstrategien in neuerer, experimenteller Dokumentarliteratur (Autofiktion, emergierendem Erzählen, ...) und andererseits eine Rückkopplung dieser Strategien an die Avantgarden und die literarische Moderne. Wie werden Erzähl- und Kommentarstimmen in der Interaktion mit dem Material profiliert? Mit welchen narrativen Strategien wird in fingierten (Auto)Biographien und Sachbüchern der Authentizitätseffekt inszeniert und reflektiert? Wie verhält die neue Dokumentarliteratur sich zu der "operativen" Ästhetik der dokumentarischen Avantgarde und zu der politisierten Dokumentarliteratur der 60er Jahre? Die Leitthese des Projektes lautet, dass die Autoren der dritten Generation einen partizipativen, hybridisierten Ansatz vertreten, der auf eine Neukonzeptualisierung des Dokuments als Repräsentationsstrategie schließen lässt und den man mit den Mitteln der Narratologie und Rhetorik erforschen kann. Die Position des Betrachters hat sich verändert: die sichere Distanz der Ideologiekritik wird aufgegeben, die dokumentarische Performance (z.B. die Stadtraumaktion von Rimini Protokoll Call Cutta, 2005) zielt darauf ab, den Rezipienten zum Komplizen zu machen. Die Hybridisierung der Dokumentarischen kann man u.a. daran ablesen, dass die Entstehungsbedingungen thematisiert werden (z.B. das Thema des 'Prekariats' und eher subjektive psychologische gefärbte Themen wie Krankheit und Alter bei Schlingensief, Kluge und Rimini Protokoll. Gleichzeitig lassen die genannten Autoren das Subjektive nach wie vor von dokumentierten sozial-ökonomischen Faktoren und Makrostrukturen abhängen."

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Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Kontakte

Gunther Martens
Benjamin Biebuyck

Institution

Universiteit Gent (UGent) / Universität Gent
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Belgique