Scheint die Welt, die Theodor Storm in seinen Novellen aufbaut, auf die des kleinstädtischen Bürgertums im 19. Jahrhundert reduziert zu sein, so ist es von großem Interesse, der Frage nachzugehen, wie der Erfolg des kleinbürgerlichen Autors im Zeitalter der Industriellen Revolution zu begründen ist. Wirkt diese Überschaubarkeit anscheinend selbst noch auf den modernen Leser des schnelllebigen 21. Jahrhunderts attraktiv, so stellt sich die Frage, ob Storms Literatur eine willkommene Ablenkung vom zunehmend hektischer werdenden Alltag bietet, oder ob sie vielmehr Probleme und Unsicherheiten gestaltet, mit denen sich auch der heutige Leser noch identifizieren kann. Um diese Fragen beantworten zu können, führt die vorliegende Studie einen Vergleich der im literarischen Werk zum Ausdruck gelangenden Daseinserfahrung mit der von Rezipienten unterschiedlicher Zeiten durch und bedient sich dabei sowohl literaturwissenschaftlicher als auch textlinguistischer Interpretationsmethoden. Besonders die Analyse von unterströmigen Sinnfügungen und Nullpositionen ermöglicht es, ambivalente Bedeutungspotentiale in Storms Texten offen zu legen, die das Bangen um die gefährdete gesellschaftliche Kohärenz in einer soziokulturellen Umbruchphase nachempfinden lassen.
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