Leo Perutz hat das Zentralmotiv seines Romans Der Judas des Leonardo (1959) offensichtlich der Novelle Meyers entnommen. Dem Leser fallen gleich mehrere Parallelen zw ischen den beiden Erzählungen auf: Der Bösewicht, der bei Perutz seine Liebe verrät und bei Meyer dem Feldherrn die tödliche Seitenwunde beibringt, erhält in beiden Fällen Geld für seine Tat vom Geschädigten, wird trotz subjektiven Bewußtseins der Unschuld2 im Gemälde als Christusmörder entlarvt und empört sich darüber, daß er öffentlich bloßgestellt wird. Nun hat Perutz seine Vorlage aber in mehrfacher Hinsicht umgearbeitet: Erstens wird das moralisch zwiespältige Personal Meyers scheinbar auf Eindeutigkeit getrimmt. Pescara, dessen Beweggründe zwischen Religiösität, Loyalität, Machtbesessenheit und Realpolitik schillern, der selbst seiner Gattin undurchsichtig bleibt, wird durch das unschuldige Mädchen Niccola ersetzt, und der ebenso zwischen Zynismus und Naivität schillernde Kriegsknecht durch den mit der Judassünde gezeichneten Behaim. Gleiches gilt für den Maler, der im Falle Meyers den Kriegsknecht bloß benutzt und doch offensichtlich intuitiv den Richtigen getroffen hat, bei Perutz aber durch den bloß seiner Wissenschaft und Kunst dienenden Leonardo ersetzt wird. Die Arbeit mit polaren Gegensätzen findet sich bei Perutz bekanntlich nicht nur im Judas des Leonardo und bringt erhebliche Teile seines Werkes in eine gewisse Nähe zur Trivialliteratur. Das wird zu überprüfen sein. Zweitens aber wird dadurch, daß Perutz das unbekannte Kunstwerk in Heiligenwunden durch Leonardos Abendmahl ersetzt und seine Geschichte darauf zuspitzt, Meyers politisches Lehrstück zu einem Lehrstück über die Voraussetzungen und Folgen sowie die inneren Gesetzmäßigkeiten der Kunst. Im Wirtshaus "Zum Lamm", dem Treffpunkt der Mailänder Künstler, und an anderen Stellen finden sich zahlreiche Bemerkungen zur Literatur, zur Kunst und zu ihrer Wechselwirkung, zum Großteil aus Leonardos Schriften übernommen. Sie werden in der folgenden Analyse des Judas des Leonardo zu berücksichtigen sein, ihre Funktion kann aber nur jeweils aus ihrem Stellenwert im Ganzen des Romans erschlossen werden (II). In einem zweiten Schritt werden dann die Ergebnisse der Analyse von Perutz' letztem Roman mit Nachts unter der steinernen Brücke verglichen (III). Möglicherweise ergibt der Vergleich ja so etwas wie eine Poetik des Perutz'schen Spätwerks, die die beiden thematisch und strukturell so verschiedenen Werke verbindet (IV).
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