Das Jahrzehnt des Gehirns macht sich in unzähligen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen bemerkbar. Zur letzteren Kategorie gehört das Buch von Calvin und Ojemann. In diesem, ihrem zweiten gemeinsamen Buch versuchen sie, das Funktionieren des Gehirns anhand einer Gehirnoperation zu erklären: Die Operation, die infolge eines Schädelbruchs aufgetretene epileptische Anfälle beheben soll, ist hier der erzähltechnische Trick, der es dem als Ich-Erzähler fungierenden Calvin erlaubt, neurophysiologische und medizinhistorische Exkurse zu unternehmen und zugleich den Verlauf eines komplizierten chirurgischen Eingriffs ins Gehirn und die Rehabilitation des Patienten zu beschreiben. Der Patient Neil - die Originalausgabe trägt den Titel "Conversations with Neil's Brain" - ist eine fiktive Figur, wie es sich für ein Buch, das sich den Anschein eines Romans gibt, gehört. Die Operation ist erfolgreich, der Roman hat ein happy-ending. Aber eine "Einsicht ins Gehirn" bietet er nicht wirklich. Denn so überaus interessant die Beschreibung der Operation an und für sich und so spannend sie auch erzählt ist - der Versuch, zu erklären, "wie Denken und Sprache entstehen", wie aus physiologischen Reaktionen Bewusstsein wird, ist noch längst nicht explizit genug, um schon zu überzeugen, und das Gerede von der "Stimme" von Neils Gehirn taugt eher für U- als für E-Literatur: "Eine Stimme taucht irgendwie, irgendwo in diesem Gehirn vor uns auf. Sie erzählt seine Lebensgeschichte. Es ist Neils Stimme. Als er geboren wurde, hat er sie nicht gehabt; doch als er vier Jahre alt wurde, begann er, sich selbst Geschichten zu erzählen, und noch vor seinem fünften Geburtstag war seine innere Stimme voll entwickelt." So hält sich der neuro-philosophische Erkenntnisgewinn in Grenzen. Schliesslich ist die hohe Spezialisierung der Gehirngegenden bekannt, und zum Problem des Bewusstseins, der "qualia", wie die Philosophen das nennen, das die Hirnforschung so sehr beschäftigt, tragen Calvin und Ojemann nichts bei.
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